Der Glasstuhl

Der Glasstuhl

 

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Pa, gibt es das Büro Moses-Reisen noch?“ unterbricht Martin während der Fahrt im Bus das Schweigen. „Moses-Reisen???“ „Ja, Moses führte doch Leute durch die Wüste, so wie sie es in Ägypten heute noch machen. Gibt es dieses Reisebüro von Moses noch?“ Der Vater kann in letzter Zeit den Gedanken seines Sohnes nicht immer folgen.

Wer kann heute mit Sicherheit sagen, was sich vor fünftausend Jahren ereignete, als Moses durch die Wüste zog? Und, was wissen die Menschen in fünftausend Jahren von uns? Was geschieht mit der Welt in den nächsten fünftausend Jahren?

Solche Fragen beschäftigen Martin, wenn es darum geht, ein Endlager für radioaktive Abfälle zu bauen, das hunderttausend Jahre halten soll. Martin und seine Familie sind sich in dieser Frage nicht einig. Seine Eltern vertrauen den Experten, Martin ist sich da nicht so sicher . . .

Die Geschichte vom Glasstuhl ist endlich fertig geworden. Mit sechs Jahren verriet mir Martin den Titel für „sein“ Buch. Heute ist er einunddreissig.

Aber die Nagra baut auch schon lange an „ihrem“ Endlager.

Der Glasstuhl (Bestellungen über das Kontaktformular. Preis CHF 20.- plus Versandkosten)

Textprobe

Vor vielen tausend Jahren, als es noch Riesen, Zwerge, Zauberer und Feen gab, lebte irgendwo in den Bergen ein seltsames Volk. Niemand wusste genau wie sie aussahen, was sie trieben oder woher sie kamen. Auch wusste niemand, in welchem der vielen Bergtäler dieses Volk lebte. Man erzählt, dass sie die Bewacher eines geheimnisvollen Schatzes waren, der tief unter ihrem Tal verborgen war. So kommt es, dass Sagen und Geschichten entstanden, in denen von einem wundervollen Schatz die Rede ist. Einmal ist es der Stein der Erkenntnis, der gehütet werden muss, ein anderes Mal sind es Bücher, die ein Zauberer vor der Entdeckung schützen will. Aber immer handeln die Erzählungen von einem Geheimnis, das der Nachwelt verborgen bleiben muss, weil andernfalls grosses Unheil über die Mensch-heit kommen würde.

Martin legt sein Buch beiseite und löscht das Licht. Er liegt noch eine Weile still auf dem Rücken und denkt über das Gelesene nach. Natürlich glaubt heute kein Mensch mehr an solche Dinge. Die Erde ist durch Satelliten längst erforscht und durchleuchtet worden. Kein Geheimnis könnte den Röntgenaugen der Kameras heute entgehen. Die Schweiz ist in der Tiefe von den Bohrungen der NAGRA und in der Breite von immer neuen Eisenbahn- und Strassentunnels durchlöchert. Nirgends ist man auf Spuren einer unerklärlichen Bevölkerung gestossen. Das heisst, es gibt kein verborgenes Tal in der Schweiz … und somit auch keinen geheimnisvollen Schatz.

Er bedauert, dass man heute schon alles kennt, was je auf der Erde existierte. Martin stellt sich vor, wie der Zauberer in letzter Sekunde seine Bücher mit einem Zauberspruch vor seinen Verfolgern tief in den Boden versenkt und selbst, mit einem hellen Blitz, in einer weissen Wolke verschwindet. Das müssen tausend ­Mal interessantere Zeiten gewesen sein, als er sie sich ausmalen, geschweige denn, dass er sie je erleben könnte. Obwohl, wenn er sich recht erinnert, war nicht gerade in den Abendnachrichten die Rede davon, dass der Bundesrat jemandem den Auftrag erteilt habe, ein Riesenloch zu graben, um darin alle Kernkraftwerke verschwinden zu lassen? – auch in einer grossen Wolke, wie der Zauberer seine Bücher…? Er hört bei den Nachrichten nie richtig hin. Für ihn bedeuten sie nichts anderes als zehn langwei­lige Minuten, die er schweigend verbringen muss. Nicht einmal unter dem Tisch durch seinen Bruder zu kneifen ist möglich, ohne dass die Eltern sofort böse werden. Martin ist deshalb nicht sicher, ob er alles richtig verstanden hat. Egal, morgen wird er den Vater fragen . . . , wenn er’s bis dann nicht vergessen hat. Die Gedanken und Bilder vermischen sich mehr und mehr. Martin sieht den Bundesrat als Riesen, wie er ein Kernkraftwerk ums andere in das leuchtende Martinsloch wirft.

Nein, ins Martinsloch komme ich nicht mit! Martin erwacht. Er träumte, von der Diskussion beim Essen gestern Abend und davon, wie er wütend vom Tisch aufstand und sich in sein Zimmer zurückzog. Er ist noch immer verstimmt. Beim Nachtessen beschloss die Familie mit 3:1 Stimmen – wie immer, wenn’s ums Wandern geht -, dass sie alle am nächsten Tag einen Ausflug zum Martinsloch machen wollen. Danach könnte man wieder einmal den Elmer-Citro-Weg abwandern und … Genau, wie immer! Martin hängt das alles so zum Hals heraus. Warum kann man ihn nicht in Ruhe lassen? Soll doch wandern wer will, aber dabei bitte ihn aus dem Spiel lassen. Es ist nicht so, dass Martin Mühe beim Wandern hätte. Er muss einfach nicht jeden Meter erwandern, um zu wissen wie es dort aussieht.

Martin ist ein Kopfmensch. Er unternimmt seine Reisen im Kopf. So ist es ihm möglich, zu jeder beliebigen Zeit, an jedem beliebigen Ort auf der Welt zu sein. Er war im Martinsloch öfter, als seine Familie ahnt; denn von seinem Bett aus sieht er genau in die dreieckige Öffnung im Berg, die schräg gegenüber vom Mond beleuchtet wird. Bei Tag sieht sie aus wie ein Schneefleck oberhalb einer Geröllhalde. Man erkennt die Öffnung nur, wenn man genau weiss, wo sie ist oder, wenn man mit einem Fernglas die Felswand absucht. Er liebt das nächtliche Schauspiel, wenn der Vollmond hinter den zackigen Spitzen der Tschingelhörner verschwindet und dann auf einmal das Martins-loch zu leuchten beginnt. Dieses Licht nimmt ihn mit auf Reisen, die unendlich spannender sind, als das eintönige Wandern mit der Familie.

Martin legt sich wieder hin. Diese Nacht geht er nicht auf Reisen; es genügt, wenn er morgen die Familie begleiten muss. Nebenan schläft sein Bruder. Unten in der Stube hört er seine Eltern miteinander sprechen. Aus einzelnen Sätzen versteht er, dass sie das Thema aus den Nachrichten besprechen. Es muss dabei um etwas Wichtiges gehen, wenn seine Eltern nach den Nachrichten darüber reden; gewöhnlich ist er der Einzige in der Familie, der sich länger als eine Mahlzeit mit einem Gesprächsthema auseinandersetzt. Nun hört er gerade, wie sein Vater zur Mutter sagt: „Die da am Wellenberg sollten eigentlich froh sein, wenn sie das Endlager erhalten. Weisst du, wie viele Millionen das der Gemeinde in die Kasse spülen wird? Steuern müsste dort in alle Ewigkeit niemand mehr bezahlen. Aber nein, wegen ein paar Querköpfen muss die NAGRA noch weitere Standorte prüfen und der ganze Dreck liegt weiterhin in den Hinterhöfen der AKWs“. Den Einwand der Mutter versteht Martin nicht, dafür umso besser den darauf folgenden Vortrag: „Das ist absolut undenkbar! „Du kannst nicht eine alte Mülldeponie mit dem Endlager für radioaktive Abfälle vergleichen. Als 1978 diese Sondermülldeponie in Betrieb genommen wurde, hatte man noch eine ganz andere Haltung zur Umwelt. Inzwischen hat sich das grundlegend geändert und die heutige Technik ist so gut, dass ein Endlager auch in fünftausend Jahren noch sicher ist.“

Nun versteht Martin, um was es beim Gespräch seiner Eltern geht. Sein Vater zog da-mals, als bekannt wurde, dass die neu gebaute, absolut sichere Sondermülldeponie leck war, beim Essen eine peinliche Show ab. Er fand, diese unfähigen Typen sollten den Dreck, den sie in dieser Deponie unkontrolliert lagerten, zu sich in den Garten nehmen und dort aufbewahren. Die Direktoren sollten persönlich jeden Tag nachschauen, ob sich die Giftfässer schon blähten. Eine hohe Mauer um das Gärtlein zu bauen sei dann immer noch billiger, als die geschätzten 700 Millionen, die der Steuerzahler nun für die Sanierung aufbringen müsse.

So wie es von unten herauf tönt, ist sein Vater auf dem besten Weg, wieder eine dieser absoluten, allwissenden und Widerspruch ausschliessenden Theorien von sich zu geben. Bis vor Kurzem übernahm Martin solche Ansichten ohne nachzudenken; denn Eltern sind natürlich ihren Kindern um Jahre voraus, wenn es um grosse Zusammenhänge im Leben geht und wenn die Argumente ausgehen, dann ist es die Erfahrung, die den Eltern recht gibt und das müssen die Kinder nun einfach akzeptieren.

Das war bis vor Kurzem.

Inzwischen reist Martin viel im Kopf, und dort gibt es nichts Undenkbares.