Archiv für den Monat: Februar 2020

Die Augen weiden lassen…

Neulich stand das Bundeshaus auf dem Programm der Urban Sketcher Bern, um am Tag der offenen Türe zwei volle Stunden durch das Bundeshaus zu schlendern, auf der Suche nach einem geeigneten Motiv.
Es standen zur Auswahl: Bögen, Durchblicke, Statuen, Aufgänge, Säulen! Ganz abgesehen vom Glanz der Einrichtung. Jedes einzelne Detail wäre eine Skizze Wert gewesen. Nach einer halben Stunde befand sich eine halbherzige Skizze vom Blick aus der Wandelhalle in die Berge im Skizzenbuch.

„Denk an das Manifest der Urban Sketcher: Wir bezeugen unsere Umwelt wahrhaftig.“ zwitscherte der Kontrolleur auf der Schulter fröhlich ins Ohr. „Das schaffst du nie! Wenn’s hoch kommt, vielleicht ein Detail, eine Palme mit Stuhl in der Wandelhalle. Ist ja auch schön…“
Es sollte aber keine Palme und auch kein Stuhl sein. Es musste „Das Bundeshaus“ sein.

Bei der Türe zum Bundesrat-Sitzungszimmer blitzte ein Kronleuchter hervor. „Warum nicht ein Kronleuchter, was meint der Kontrolleur dazu?“
„Versuch’s doch. Wieviele Birnen und Glasperlen hat er denn? abgesehen davon, wie du den Glanz aufs Papier bringen willst. Und denk daran: Wir zeichnen vor Ort, drinnen oder draußen, nach direkter Beobachtung!“
Diese inneren Gespräche kennen alle, die mit Block und Bleistift unterwegs sind. Sie kennen ihren persönlichen Kontrolleur bestens, verscheuchen ihn kurzfristig und, wenn sie glauben er sei weg, flüstert er ins andere Ohr: „So nicht, das stimmt jetzt gar nicht, das kannst du besser!“

Es gibt dagegen ein Rezept: Intuitives Zeichnen
Direkte Beobachtung heisst ja nicht, dass das Motiv so aussehen muss, wie es in Wirklichkeit vorhanden ist. Es kann auch bedeuten, dass ich ein Motiv so zeichne, wie ich es spüre, wie es mir mein Gefühl vermittelt.
Wenn ich also einen Blick in das Zimmer mit dem Kronleuchter werfe, versuche ich nicht, die Birnen auf dem Leuchter zu zählen. Ich überlege was mir an der Situation auffällt. Ich lasse meine Augen weiden:
– Eine riesige, verzierte Türe weist in das Zimmer.
– Es sind verzierte Sessel um einen Tisch angeordnet. Vom Tisch sehe ich nicht viel.
– Im Hintergrund sehe ich schwere Vorhänge, eine verzierte Uhr in einer Nische und Verzierungen an den Wänden.
– Die dominierenden Farben sind Rot und Braun und helle Lichter vom Leuchter und vom Fenster.
Ich beginne also mit dem Eingang und
– setze die Türe als Rahmen. Um die Höhe der Türe zu zeigen, verziehe ich sie in Richtung des Fluchtpunktes nach oben.
– Danach kommt das Hauptmotiv, der Leuchter, an die Reihe. Ich suche in all den Details eine grosse, äussere Form. Sie scheint mir etwas „birnenförmig“ und enthält viel kleine, herabhängende, „tropfenförmige“ Details. Ich zähle sie nicht.
– Im Hintergrund deute ich durch verschiedene Ecken die Wände mit den Fenstern und den schweren Vorhängen an.
– Dazwischen setze ich in einer Wand die Nische mit der Uhr.
Zum Schluss muss noch die Ortsbezeichnung aufs Blatt. Immerhin ist es das Sitzungszimmer vom Bundesrat.
Fertig!
Nach diesem Prinzip schlendere ich nun weiter durch das Parlamentsgebäude. Mein Blick ist nicht mehr auf Details fokussiert, sondern auf Situationen:
Die verwinkelten Treppen in der Eingangshalle stellen kein perspektivisches Problem mehr dar und die „Wächter“ bei den Treppenaufgängen sind einfach irgendwelche Statuen aus der Ferne gesehen. Nicht anders als die anwesenden BesucherInnen.

Im Nationalratssaal fallen das Wandgemälde, die Schweizerfahne, die im Halbrund angeordneten Sitze, so wie die Säulengalerie ins Auge

Unterwegs in die oberen Etagen trifft man auf riesige Statuen, die aus der Nähe kaum zu erfassen sind. Das macht aber nichts. Dem Fotografen half das Objektiv, mir hilft wieder einmal der Fluchtpunkt in der Senkrechten und schon sind auch diese drei Eidgenossen im Bild.

Das ging ja nun rasch und der Kontrolleur hat sich nicht ein einziges Mal gemeldet. Vielleicht war ich zu sehr mit meinem Gefühl für die Situation beschäftigt? Das Augen-weiden-lassen hat den Vorteil, dass die Informationen über die Augen kommen und nicht vom Gehirn gefiltert werden, sondern direkt über das „Bauchgefühl“ zur Hand weitergeleitet werden.

Apropos Bauchgefühl: Nach einer Stunde intuitivem Skizzieren kam zufällig das „Zeitungszimmer“ des Weges. Andernorts heisst dieses Cafeteria. Ein Unterschied besteht nicht, der Kaffee ist gut und zwei weitere Skizzen sind noch hinzugekommen.

Damit sind die zwei Stunden herum und, wenn gemäss Urban Sketcher Manifest die Umwelt nicht zu 100% wahrhaftig bezeugt wurde, hat der Besuch Spass gemacht. Ohne Fotoapparat.

Schnelles Skizzieren unterwegs bedeutet auch: Die Augen weiden lassen.